«Kreislaufwirtschaft beginnt im Kopf»

    Der Aarauer Andreas Röthlisberger ist ein Pionier des Recylings in der Schweiz und darüber hinaus. Im Interview mit der «Umwelt Zeitung» erklärt er, was eine echte Kreislaufwirtschaft ausmacht und warum sie mindestens so wichtig ist wie der Klimaschutz. 

    (Bild: freepik.com) Echte Kreislaufwirtschaft – ein herkulische Aufgabe.

    Herr Röthlisberger, Sie befassen sich schon seit über 30 Jahren mit dem Recycling und haben in einer Zeit damit begonnen, als es noch nicht Mode war. Wie sind Sie darauf gekommen? Alles redet heute über Kreislaufwirtschaft, und die meisten meinen damit das Recycling. Es herrscht die Meinung vor, wenn es uns gelinge, alles einem «geordneten» Recycling zuzuführen, was wir als Konsument, als Staat, als Wirtschaft verbrauchen, dann hätten wir die Kreislaufwirtschaft umgesetzt. Recycling ist zwar ein wichtiger Teil der Kreislaufwirtschaft, aber längst nicht der wichtigste. Kreislauf beginnt im Kopf. Wir müssen uns immer wieder von Neuem bemühen, das Ganze zu sehen und zu erfassen und nicht nur Teile, die zwar einzeln betrachtet richtig sein mögen, im Gesamtzusammenhang aber falsch sind. 

    Können Sie uns ein Beispiel dafür nennen? Die Kies- und Beton-Branche in der Schweiz war wohl eine der ersten Branchen, die das Recyling seit vielen Jahren professionell betreibt. Es gibt in der Schweiz keinen Kubikmeter Beton, der nicht dem Recycling zugeführt wird. Alles, was heute an mineralischen Bauabfällen zu den Kies- und Betonwerken zurückkommt, wird zu neuen Baustoffen verarbeitet, wenn immer der Verschmutzungsgrad das zulässt. Und die Branche macht zusammen mit den Baumeistern Veranstaltungen zur Kreislaufwirtschaft. Wunderbar – well done! Aber die wichtigsten Leute fehlen an diesen Veranstaltungen: die Planer, die Ingenieure, die Architekten. Es fehlen die Leute von MINERGIE. Es fehlen all die Menschen, welche das Produkt «Gebäude» von Anfang an planen, die festlegen, welche Baustoffe verbaut werden. Wenn wir von Kreislauf und Kreislaufwirtschaft sprechen, dann müssen wir vorab den Kreislauf sehen, im Kopf sehen. Und Kreislauf beginnt mit der Konzeption und der Herstellung des Produkts, beginnt mit all den (chemischen) Stoffen, die in ein Produkt verbaut werden. Und nur derjenige, der die einzelnen Stoffe bestimmt, welche in das Produkt verbaut werden, kann – und muss – die Verantwortung dafür übernehmen, dass diese Stoffe und dieses Produkt am Ende wieder so zurückgebaut, so zerlegt, so zu Bestandteilen oder zu Sekundärrohstoffen verarbeitet werden können, dass weder für die Luft, noch für den Boden noch für das Wasser, noch für den Menschen oder die Tiere irgendwelche Schäden entstehen. Das ist eine riesige Herausforderung – aber sie ist zu meistern. 

    (Bild: SENS) Den Umweltnutzen im Visier.

    Sie betonen auch, wie wichtig es ist, schadstofffreie Materialien zu verwenden. Warum sind sie eine Voraussetzung für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft? Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Die Stiftung SENS-eRecycling beauftragt das Büro Carbotech AG in Basel jährlich zu ermitteln, welche Umweltleistung die SENS in all diesen Jahren effektiv erbracht hat mit dem Recycling von Elektro- und Elektronikgeräten in der Schweiz. Das Resultat für 32 Jahre eRecycling ist erstaunlich: 975’000 Tonnen recycelte Wertstoffe hat die Stiftung gemeinsam mit ihren Partnern in den Kreislauf zurückgebracht! Das entspricht 152’094’000’000 Umweltbelastungspunkten (UBP), welche von der Stiftung eingespart werden konnten. Doch diese gewaltigen Mengen an Materialien entsprechen lediglich 0.6% des Umweltnutzens. 99.4 % des Umweltnutzens, den die SENS geleistet hat, ist ausschliesslich auf die Entfrachtung von Schadstoffen aus dem Stoffkreislauf zurückzuführen: PCB, Quecksilber, Kühl- und Kältemittel. Diese Tatsache sollte sich jeder, der sich mit der Entwicklung und Planung von irgendwelchen Produkten befasst, täglich vor Augen führen. 

    Wie kann es gelingen, eine Kreislaufwirtschaft im echten und umfassenden Sinne zu entwickeln? Es ist dies eine herkulische Aufgabe. Aber entweder ist Kreislaufwirtschaft eine Zielsetzung, die wir gemeinsam erreichen wollen, oder dann lassen wir zu, dass wir unsere Lebensgrundlagen so zerstören, dass ein Leben auf diesem Planeten nur noch sehr eingeschränkt möglich sein wird. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zur CO2-Problematik und zur Klimaerwärmung sagen. CO2 und unser Engagement für das Klima sind für mich ein grosses Thema – die von mir präsidierte Stiftung Fair Recycling hat mit ihrem Projekt der ersten Kühlschrank-Recycling-Anlage von Lateinamerika in Sao Paulo in den letzten 12 Jahren rund 1.5 Mio Tonnen CO2 reduziert und diese Reduktion an engagierte Unternehmen in der Schweiz als Möglichkeit der Kompensation abgegeben. Aber mit CO2-Reduktion retten wir unsere Lebensgrundlagen auf dieser Erde nicht. Es ist der ungebremste Eintrag von Schadstoffen in all unsere Lebensgrundlagen, der zu wesentlich gravierenderen Umweltschäden führt als die aktuelle Klimaerwärmung. Bestrebungen, die CO2-Belastung in Umweltbelastungspunkten auszudrücken und damit in den Gesamtrahmen der Umweltbelastung unserer Lebensgrundlagen zu setzen, sind im Gange, kommen aber nicht überall gut an. So wird die politische und gesellschaftliche Fokussierung auf CO2 und auf das Klima auf absehbare Zeit verhindern, dass wir – zumindest in der Schweiz und Europa – eine echte Kreislaufwirtschaft aufbauen und betreiben können. 

    Dennoch muss ich nachhaken: Wie erreichen wir dieses Ziel? Als Optimist darf ich einige wenige Gedanken kurz skizzieren:

    Ausbildung: Sie ist der wichtigste Hebel in Richtung schadstofffreie Kreislaufwirtschaft. Das beginnt in den Fachhochschulen, in den Universitäten und ETH. Es braucht dringend Lehrstühle für die Entwicklung von schadstofffreien Materialien, nicht nur für die Bauwirtschaft sowie die gesamte Investitions- und Konsumgüterindustrie, sondern auch für die Landwirtschaft und die Pharmaindustrie. Und diese Ausbildung hat sich weiter zu etablieren in den Volksschulen: Jedes Kind soll lernen, den «Kreislauf zu sehen», zu erkennen und ihn in seinem Verantwortungsbereich umzusetzen.

    Produzentenverantwortung: Wir können stolz sein, dass die Schweiz das erste Land war, in welchem die Hersteller und Importeure von elektrischen und elektronischen Geräten die erweiterte Produzentenverantwortung (EPV) bis heute wahrgenommen haben – und zwar auf freiwilliger Basis. Sie haben in Zusammenarbeit mit der Stiftung SENS-eRecycling dafür gesorgt, dass die Konsumentinnen und Konsumenten sämtliche Geräte nach dem Erreichen des Lebenszyklus an den einschlägigen Verkaufsstellen sowie an allen offiziellen Sammelstellen kostenlos einer umweltgerechten Entsorgung bzw. dem Recycling zuführen können. Das funktioniert seit 30 Jahren bis heute hervorragend.

    Konsumentenverantwortung: Wenn es eine Produzentenverantwortung gibt, dann muss auch der Konsument in die Pflicht genommen werden. Wir sind als Konsumenten heute in der Lage, hochkomplexe elektronischen Geräte bei uns zuhause oder am Arbeitsplatz zu evaluieren, zu erwerben und in Betrieb zu nehmen. Hersteller, Importeure und Handel stellen uns Konsumenten jede Menge an Infos und Daten zu den verkauften Produkten zur Verfügung. Ist es da zu viel verlangt, dass wir als Konsumenten uns täglich bemühen, den «Kreislauf zu sehen»? Und uns auch danach auszurichten? Es darf und muss heute von den Konsumentinnen und Konsumenten verlangt werden dürfen, dass sie die Geräte und Materialien, die sie nicht mehr brauchen und die als Abfall zu entsorgen sind, an den richtigen Abgabeort bringen oder über eine der vielen Internetplattformen die Gegenstände der Wiederverwendung übergeben.

    Wenn ich Ihr Engagement richtig deute, geht es Ihnen auch darum, beim Recycling die Gesetze des Marktes spielen zu lassen. 

    Das ist richtig. Die Geschichte des Recyclings war allerdings über weite Strecken eine Geschichte des Marktversagens. Im Recycling engagieren sich naturgemäss technisch orientierte Menschen. Wenn ein Techniker einen Haufen Abfälle vor sich hat, beginnt er in der Regel mit der Konstruktion von Maschinen und Anlagen, mit denen der Haufen Abfälle verarbeitet werden kann. Wenn die Anlage dann läuft, ist er erstaunt, dass er das Produkt nicht oder fast nicht verkaufen kann. Die Recycling-Unternehmen haben gelernt: Der Markt bestimmt das Produkt und den Preis, danach ist die ganze Technologie auszurichten. 

    Wo sehen Sie derzeit noch die grössten Defizite? 

    Zu erwähnen sind die ganzen biogenen Stoffe aus der Landwirtschaft und dem Gesundheitswesen oder die Ernährung von Mensch und Tier. Hier sind wir noch weit weg von echten Kreisläufen ohne Schadstoffe, im Gegenteil, wir entfernen uns in Riesenschritten in einen komplett vergifteten Kreislauf.

    Dr. Philipp Gut

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    Zur Person: Andreas Röthlisberger war als Seniorpartner im Advokaturbüro SwissLegal in Aarau tätig. Er ist Gründer der Stiftung SENS-eRecycling und war über 30 Jahre deren Präsident, heute Ehrenpräsident. Weiter ist er Mitgründer und Präsident der Stiftung Fair Recycling sowie Gründer der Vorgänger-Organisation von Biomasse Suisse (VKS-ASIC). Seit über 35 Jahren engagiert er sich in der Kies-, Beton- und Recyclingbranche. 

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