Eritrea: Eine Sicht von Innen

    Sabina Geissbühler-Strupler kennt Eritrea. Die Berner Primar, Turn- und Sportlehrerin bereiste das Land als Rucksacktouristin. Sie erlebte hautnah mit, was die Bevölkerung dort mitmacht. Die ehemalige Grossrätin spricht hier aus ihren Erfahrungen. Und sie interviewt eine hochrangige Person, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss.

    (Bilder: Sabina Geissbühler-Strupler) Der Markt in Keren.

    Eritrea ist derzeit kein sicheres Land. Es ist sehr wahrscheinlich, dass vielen Eritreer/innen bei einer Rückkehr in ihr Land eine Verfolgung, Misshandlung oder Inhaftierung drohen würde. Es besteht ein hohes Sicherheitsrisiko im ganzen Land. Von nicht notwendigen Reisen nach Eritrea, insbesondere ausserhalb von Asmara, den Badestränden um Massawa und den Dhalak-Archipel, wird abgeraten.

    Antwort: «Wenn ein Eritreer nach mehr als drei Jahre Aufenthalt in einem anderen Land zurückkommt, braucht er keine Repressionen zu befürchten. Auch muss er nicht die verpasste Militärausbildung nachholen, sondern sich dort einbringen, wo er Fähigkeiten mitbringt, den Staat Eritrea weiterzubringen.

    Allerdings wäre es wichtig, dass der Friedensvertrag von Algier und der Entscheid der internationalen Grenzkommission (Ethiopian-Eritrean-Border-Commission EEBC) von 2002 – welche den Grenzverlauf zwischen Eritrea und Äthiopien völkerrechtlich verbindlich festgelegt hat – nicht nur vom äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed, sondern auch von der äthiopischen, militanten Tigray-Volksbefreiungs-Front eingehalten würde.

    Auch möchte ich hier auf die schwerwiegenden Anschuldigungen gegen die eritreischen Streitkräfte im Zusammenhang mit dem Massaker von Axum eingehen. Diese sind besorgniserregend, denn sie basieren ausschliesslich auf anonyme Quellen, ohne stichhaltige Beweise. Den eritreischen Verteidigungskräften wurde angelastet, sie hätten während der jährlichen Wallfahrt hunderte von Zivilisten aus der Mariam-Tsyon-Kirche in Axum massakriert. Am gleichen Tag verbreitete jedoch das äthiopische Fernsehen (etv) Videos, die eine friedliche Feier der Menschen der religiösen Pilgerfahrt zeigten.

    Ich muss die westlichen Medien darauf aufmerksam machen, dass die linksnationalistische Tigray-Volksbefreiungs-Front und ihre Anhänger in ihrem Twitter-Account ‹#genocideinTigray› von eritreischen und äthiopischen Menschenrechtsverletzungen berichten, selbst aber nicht vor entsetzlichen ethnischen Säuberungsverbrechen in May-Khadra im Nordwesten Äthiopiens zurückschrecken. Sie kämpfen mit Brutalität für eine Selbstbestimmung der Tigray-Ethnie, besetzen auch immer wieder eritreisches Territorium.

    Warten auf den Bus oder auf das Gebet?

    Ende 2020 wurden sogar Raketen bis zum Flughafen von Eritrea geschossen und Häuser in unserer Hauptstadt Asmara beschädigt. Sogar Todesopfer hat dieser Angriff gefordert. Der Regierungschef Afewerki und wir Eritreer/-innen erwarten vom UNO-Sicherheitsrat, dass er solche Angriffe verurteilt und sanktioniert.

    Wie Sie selbst erlebt haben, gehen Touristen kein Sicherheitsrisiko ein. Allerdings gibt es Grenzregionen, die nicht betreten werden dürfen.»

    Das Kinderhilfswerk Unicef geht davon aus, dass circa die Hälfte der eritreischen Kinder unter fünf Jahren unterernährt ist. Immer wieder komme es  zu Hungersnöten, die Tausende zur Flucht zwingen, so auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019.

    Antwort: «Eritrea ist das einzige Land am Horn von Afrika, das seit seiner Unabhängigkeit keine Hungersnot hatte und damit ein soziales Grundrecht der UNO-Charta erfüllt. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser beträgt eritreaweit ungefähr 80%. In den letzten Jahren wurden ca. 1000 neue Stauseen und Bewässerungsanlagen gebaut. Dies hat zur Folge, dass auf Märkten Getreide, Mais, Gemüse und Früchte… angeboten werden.»

    Zwangsarbeit, insbesondere der militärische Nationaldienst, könne auf unbestimmte Zeit ohne gesetzliche Grundlage verhängt werden. Auch würden Kinder als Soldaten rekrutiert, hört man von Kreisen von Amnesty International. Dies geben Asylsuchende als Hauptgrund der Massenauswanderung insbesondere von jungen Eritreer/
    -innen an.

    Antwort: «Das zwölfte Schuljahr in Sawa ist einerseits der Abschluss der obligatorischen Schulzeit, und andererseits der Beginn des Nationaldienstes (Nationalservice), das heisst: Der Einstieg ins Berufsleben oder in ein Studium. In der ersten schulischen Phase werden die Schülerinnen und Schüler intensiv auf die Abschlussprüfungen vorbereitet, welche im Februar/März stattfinden (Eritrean Secondary Education Certificate Examination). Im Anschluss an diese Abschlussprüfungen findet eine militärische Ausbildung statt. Der Schwerpunkt sind die körperliche Ertüchtigung, Gymnastik, Exerzieren sowie eine minimale Ausbildung an der Waffe. Frauen mit Kindern werden vom Militärdienst dispensiert. Kindersoldaten gibt es in Eritrea keine!

    Theater aus der italienischen Kolonialzeit in Asmara.

    Seit Jahren ist das Nationaldienstprogramm das Ziel von Desinformationskampagnen. Es wurde von denjenigen, welche nicht bereit sind, die positiven Auswirkungen des Programms auf die Widerstandsfähigkeit, die nationale Einheit und Entwicklung anzuerkennen, als lebenslange Wehrpflicht, Zwangsarbeit, Sklaverei und Knechtschaft bezeichnet. Dabei wird mit den Massnahmen versucht, die jahrelang erkämpfte nationale Einheit, Souveränität und territoriale Integrität zu bewahren. Dieses Programm dient des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens, denn auch in Eritrea leben ganz verschiedene Ethnien zusammen. Diese Pflege der Kameradschaft finden unser Regierungschef und die meisten Landsleute wichtig. So konnten wir bis anhin einen Bürgerkrieg, wie er in unseren Nachbarländern tobt, verhindern.»

    Nach Angaben der Organisation «Open Doors» ist das Ausmass der Diskriminierung und Verfolgung von Christen in Eritrea besonders hoch.

    Antwort: «Eritrea garantiert Religionsfreiheit; Muslime und Christen (je ca. 50%) leben in gleichen Quartieren oder in Dörfern friedlich zusammen. Kirchen und Moscheen werden häufig besucht und stehen oft nebeneinander. Was zutrifft: Sekten, deren Mitglieder sich im Untergrund treffen oder missionieren, sind nicht geduldet.»

    Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist nicht zuletzt wegen der verbreiteten weiblichen Beschneidung eine der höchsten der Welt (Reporter ohne Grenzen, Stand: 04/2018)

    Antwort: «Wir kennen in Eritrea sowohl ein Zivilrechts- wie ein Strafrechtsbuch. Dort steht, dass die Beschneidung und Verheiratung von Mädchen unter 18 Jahren unter Strafe stehen. Das ist der Verdienst der starken Frauenbewegung in Eritrea. In den Gesundheitszentren auf dem Land setzen sich Krankenschwestern für die Einhaltung dieser Gesetzesartikel ein.

    Auch steht im UNO-Bericht, dass die Mütter- und Kindersterblichkeit in Eritrea niedrig und Polio, Masern und Tuberkulose ausgerottet seien».

    Ein weiterer Grund für die Flucht aus Eritrea ist die fehlende Niederlassungsfreiheit. Je nach Bedarf werden die Berufsleute in ein Dorf weit weg von der beliebten Stadt Asmara beordert. Weiter schreibt die «Agriculture Organization of the United Nations» (FAO), dass in den Ländern der Subsahara-Region ausgeprägte Ungleichheit zwischen arm und reich festgestellt werde.

    Antwort: «Die Regierung sieht den Nutzen bei der Jobzuteilung darin bestätigt, dass es der Bevölkerung in Eritrea bessergeht, als den Menschen in den Nachbarländern: Alle haben eine Arbeit, gleiche Löhne vom Staat ausbezahlt und damit genügend zu essen, zu trinken und ein Dach über dem Kopf. Bei uns gibt es keine Slums, keine verwahrlosten, hungernden Menschen.»

    Wäre Ihr Regierungschef Isayas Afewerki persönlich für ein Gespräch mit unserem Bundesrat Beat Jans bereit? Könnten Sie Ihren Einfluss bei der eritreischen Regierung geltend machen und mithelfen in der Schweiz oder in Eritrea ein solches Treffen zu organisieren?

    Antwort: «Da Sie selbständig in Eritrea unterwegs waren, wissen Sie, wie viele Unwahrheiten über mein Land geschrieben werden. Dies kränken unseren Regierungschef und unsere ganze Bevölkerung. Wir sind ein stolzes Volk, dass sich von der Völkergemeinschaft missverstanden fühlt. Auch werden unsere grossen Fortschritte betreffend Gesundheit, Bildung und wirtschaftliche Entwicklung nicht wahrgenommen. Deshalb wäre ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen Regierungschef Afewerki und Bundesrat Jans von Nöten.»

    Wir haben mit den über 40’000 anerkannten Flüchtlingen aus Eritrea Probleme, bezog doch laut dem Bundesamt für Statistik im Jahr 2021 jeder vierte Eritreer, jede vierte Eritreerin Sozialhilfe; also hat die eritreische Migrationsgruppe eine niedrige Erwerbsquote. Trotzdem haben im Jahr 2023 laut Angaben des Staatssekretariates für Migration (SEM) 1168 Eritreerinnen und Eritreer Asyl erhalten, 395 wurde eine vorläufige Aufnahme gewährt. Dies führt bei Schweizer/-innen zu Recht zu Unmut. Die Schweiz müsste mit Projekten zur «Hilfe vor Ort» den rückkehrenden Eritreer/-innen eine berufliche Perspektive in ihrem Land sicherstellen. Deshalb wäre meiner Meinung nach ein Rückübernahmeabkommen für beide Länder eine Win-Win-Situation. Was meinen Sie zu diesem Vorschlag?

    Antwort: «Wie jedes andere Land hat auch Eritrea Lücken bei den Menschenrechten; eine demokratische Ordnung wie in der Schweiz, ist im Moment nicht möglich. Die eritreische Regierung arbeitet jedoch kontinuierlich daran, diese Probleme anzugehen, und die Menschenrechtsstandards im Land zu verbessern. Aber in unserem Land ist die erste Priorität, die Grundbedürfnisse für alle wie Bildung, Gesundheit und Arbeit zu sichern. Dazu muss Eritrea – bis anhin ohne Unterstützung der Völkergemeinschaft – gegen äussere Bedrohungen wachsam und verteidigungsfähig sein.

    Eritrea ist bereit für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Schweiz, aber auch auf internationaler Ebene.»

    Besten Dank für Ihre Bereitschaft, dieses Interview zu ermöglichen, für Ihre Offenheit, auch kritische Fragen zu beantworten.

    Interview: Sabina Geissbühler-Strupler

    Aus Angst vor Repressionen und Gewalt von Seiten militanter eritreischer oder äthiopischer Regimegegnern wollte leider mein Interviewpartner anonym bleiben.
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