Die Schweizer Wirtschaft hat eine besonders tiefe Energieintensität. Das ist eine sehr gute Nachricht. Gleichzeitig ist das wundersam. Warum verbraucht ausgerechnet hier die Industrie weniger Energie als in vergleichbaren Ländern?
Das Staatssekretariat für Wirtschaft seco hat Studien in Auftrag gegeben. Sie sollten dem wundersamen Befund auf den Grund gehen. Ist denn die Schweizer Wirtschaft wirklich so viel effizienter als die Europäische?
Um es gleich vorweg zu klären. Energieintensität ist die Frage nach der Menge Energie – Strom, Öl, Gas, usw. – die notwendig ist, um ein Output – zum Beispiel ein Produkt – zu erbringen. Von Energieeffizienz spricht man, wenn man mit besonders wenig Energie viel Output produzieren kann. Grundsätzlich ist das ein erstrebenswerter Zustand. Gerade darin brilliert die Schweizer Industrie.
Energieeffizienter als Frankreich und Deutschland
In technischem Deutsch formuliert der Bericht des seco so: «Besonders tief ist die Energieintensität im Sekundärsektor, insbesondere im verarbeitenden Gewerbe. So verbraucht das verarbeitende Gewerbe der Schweiz weniger als ein Drittel der Energie des Französischen und weniger als die Hälfte der Energie des Deutschen für eine Einheit Bruttowertschöpfung.»
Man hat die Sache ökonomisch analysiert und zwei Gründe gefunden. Der erste Effekt nennt sich Struktureffekt. Denn in der Schweiz produzieren Industriebranchen, die an sich energieärmer arbeiten. Der zweite Effekt ist der Intensitätseffekt. Der sagt, dass in allen Branchen energieeffizient produziert wird. Jetzt kommt’s: «der Intensitätseffekt (fällt) deutlich stärker aus.»
Verschiebungen in der Produktionsstruktur
Der Bericht holt dann aus: «Diese Befunde werden auch durch die Analyse des starken Rückgangs der Energieintensität (- 35%) im Schweizer verarbeitenden Gewerbe zwischen 2010 und 2019 bestätigt. Zwar wirkte auch hier die Verschiebung der Branchenstruktur, der Intensitätseffekt überwiegt jedoch.»
Der Struktureffekt geht auf die Pharma zurück, so der Bericht: «So wurde der Struktureffekt insbesondere durch die wachsende Pharmaindustrie angetrieben, deren Energieintensität vergleichsweise gering ist und deren Anteil an der Bruttowertschöpfung des Schweizer Industriesektors zwischen 2010 und 2019 von 15 % auf 31 % anstieg.»
Der Intensitätseffekt ist noch deutlicher: «Der Intensitätseffekt erstreckt sich jedoch über 15 von 18 Branchen des verarbeitenden Gewerbes und spielte gerade auch in der Pharmabranche eine besonders wichtige Rolle. So ist die Energieintensität in der Pharmabranche mit einem Rückgang von 71 % am stärksten gesunken.»
Gründe für die Effizienz
Welche Gründe sprechen für diese Effizienz? Der Bericht hat zwei potenzielle Gründe überprüft. Die Energiepreise sind eine treibende Kraft. Interessant ist aber, dass die Energiepreise in der Schweiz eher tiefer sind als in der Europäischen Union. Wenn die Energiepreise ein Treiber sind, dann weil sie im Kontext der anderen in der Schweiz teureren Produktionsfaktoren gesehen werden.
Der andere Grund ist die Klimapolitik. Die ambitionierte Schweizer Klimaziele und die pragmatischen Massnahmen führen zu mehr Umwelt- und Energieeffizienz. Auch hier gilt ein aber: Dieser Effekt ist nur in einigen Branchen auszumachen.
Am Schluss stellt der Bericht dann doch lakonisch fest: Der technische Fortschritt erklärt alles viel besser. Schweizer Unternehmen sind innovativer als anderswo. Sie erneuern ihre Maschinen und Produktionsanlagen auch schneller. Durch den technischen Fortschritt, der hier stärker abfährt als anderswo, wird die Wirtschaft energieeffizienter.
Und damit setzt sich dann doch der allgemeine Menschenverstand als Erklärung durch. Das Wunder der Energieeffizienz der Schweizer Industrie ist erklärt: technischer Fortschritt.
Henrique Schneider
Energieeffizienz in drei Bildern
Die Energieintensität, der Energieverbrauch und das Bruttoinlandprodukt BIP der Schweiz werden in Abbildung 1 gezeigt. Damit man ihre jeweilige Entwicklung miteinander vergleichen kann, wurden sie mit einem sogenannten Index abgebildet. Die Verläufe aller drei beginnen gemeinsam im Jahr 2010 bei Wert 1.
Man sieht, wie das BIP des Landes bis zum Jahr 2019 stets gewachsen ist. Der Energieverbrauch sank zunächst und nahm dann bis zum Jahr 2013 wieder zu. Dann sank er wieder und nahm wieder zu. 2019 war er wieder bei 1. Wie muss man das lesen? Bei grösser werdendem BIP blieb der Energieverbrauch konstant. Das heisst, der Output ist gestiegen, der Input ist gleich geblieben. Das Resultat ist Effizienz.
Diese Effizienz sieht man in der Kurve, die zuunterst ist. Sie zeigt, wie energieintensiv die Schweiz ist. Der Wert ist stark gefallen. Er begann bei 1 und endete bei etwa 0,85. Weniger Intensität ist mehr Effizienz.
Internationaler Verleich
Abbildung 2 zeigt die Energieintensität verschiedener Länder im Vergleich. Auch hier wurde wegen der Vergleichbarkeit auf einen Index gesetzt. Die Schweiz bildet der Anfang mit dem Wert 1. Ein höherer Wert würde höhere Energieintensität, also tiefere Effizienz, anzeigen. Ein tieferer Wert heisst, man ist effizienter als die Schweiz.
Kein Land weist dabei einen tieferen Wert als 1 auf. Österreich (in der Grafik als AT abgekürzt) zeigt der Wert 2,5; Deutschland (DE) 2,7 und Frankreich (FR) 3,5. Das am energieintensivsten Land in der EU ist Bulgarien BG mit einem Wert von 13,2. Das heisst im Klartext: Keine der untersuchten Wirtschaften ist energieeffizienter als die Schweiz.
Sektorvergleich
In der Energie- und Umweltpolitik spricht man üblicherweise von vier (oder fünf) Sektoren. Es sind die Mobilität, das Gebäude, die Dienstleitungen und die Industrie. Der fünfte wäre noch die Landwirtschaft. Abbildung 3 vergleicht diese Sektoren (ohne Landwirtschaft) in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Auch hier gilt ein Index. Die Werte für die Schweiz sind überall auf 100% gesetzt.
Stellvertretend für die Mobilität steht die Autoflotte (PKW). In der Schweiz ist diese Flotte etwas energieintensiver als in Frankreich. Dafür ist sie energieeffizienter als die Deutsche. Stellvertretend für das Gebäude steht die Fläche. Die Schweiz ist bezüglich der Wohnfläche ernergieffizienter als Frankreich und Deutschland. Ähnlich energieeffizient im Vergleich ist sie im Sektor der Dienstleistungen.
Das «Schweizer Wunder» der Industrie wird im Vergleich mit Frankreich und Deutschland im Sektor Industrie nochmals deutlich. Gemessen wird hier die Energieintensität als Megajoule Energieeinsatz pro US-Dollar Wertschöpfung. Dabei braucht die deutsche Industrie 2,5 Mal mehr Energie für einen Dollar Wertschöpfung. In Frankreich ist der Faktor fast 3,5.
Henrique Schneider
Schweizer Wirtschaft ist resilient
Das Seco hat einen weiteren Bericht veröffentlicht. Er thematisiert die Resilienz der Schweizer Volkswirtschaft. Resilienz bedeutet dabei, Schocks zu absorbieren und nach einer Initialstörung wieder auf den normalen Pfad zurückzukehren. Die Befunde der Resilienz-Studie zusammengefasst:
- «Unsere Hauptanalyse stellt auf den Resilienzvergleich in einer konjunkturellen Perspektive von wenigen Quartalen ab. Als konkretes Resilienzmass dient der kumulierte Wohlfahrtsverlust gemessen am realen Bruttoinlandprodukt (BIP) über drei Jahre. Die Resilienzbefunde wurden anhand von Modellsimulationen für rund 40 Volkswirtschaften bestimmt.»
- «Hierbei wurde die Wirkung zwei unterschiedlicher Typen von Schocks überprüft, welche sich an den aktuellen Erfahrungen anlehnen. Zum einen ein Kostenschock durch eine exogen vorgegebene nominelle Aufwertung der eigenen Währung von 10 Prozent.»
- «Zum anderen ein Nachfrageschock mit einem exogenen Rückgang der ausländischen Nachfrage von rund 13 Prozent. Das entspricht in etwa dem Einbruch des Nachfragepotenzials, welchem sich viele Industrieländer und aufstrebende Volkswirtschaften im Jahr 2009 ausgesetzt sahen.»
- «Wie sich zeigt, ist die Schweiz für eine offene Volkswirtschaft bemerkenswert resilient gegenüber beiden aussenwirtschaftlichen Schocks. Eine höhere Resilienz als die Schweiz weisen fast nur Länder auf, bei denen die Exporte eine deutlich geringere Bedeutung für die Gesamtwirtschaft haben, während gleichzeitig zahlreiche Länder mit tieferen Exportintensitäten eine geringere Resilienz als die Schweiz aufweisen.»
- «Allerdings existiert eine recht hohe Diskrepanz zwischen resilienten Schweizer Güterexporten und einer vergleichsweise anfälligen Ausfuhr von Dienstleistungen. Auf der Basis unserer Simulationsrechnungen sind wir auch der Frage nachgegangen, ob sich Faktoren identifizieren lassen, die die Resilienz einer Volkswirtschaft begünstigen.»
- «Eine wichtige Rolle für die Widerstandsfähigkeit einer Wirtschaft spielen ihre Strukturen. Wie erwartet macht ein hoher Anteil von Exporten eine Volkswirtschaft anfälliger gegen aussenwirtschaftliche Schocks. Dies gilt auch für einen grösseren Anteil des verarbeitenden Gewerbes. Die Grösse einer Volkswirtschaft ist hingegen positiv mit ihrer Resilienz verknüpft.»
- «Teilweise positive Verbindungen zur Resilienz liessen sich auch für ein hohes Wohlstandsniveau (Währungsschock) sowie einen möglichst hohen Anteil der Exporte in etablierte Industrieländer sowie für einen höheren Anteil der Staatsausgaben in Relation zum BIP aufzeigen (Nachfrageschock).»
- «Für weitere Faktoren, die auch die politischen Rahmensetzungen umfassen und von denen angenommen werden kann, dass sie die Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft steigern und somit zu ihrer Resilienz beitragen, konnte jedoch kein signifikanter und stabiler Zusammenhang mit dem Resilienzmass beobachtet werden.»
- «Es sollte hieraus jedoch nicht geschlossen werden, dass diese Faktoren unwichtig wären. Es ist durchaus möglich, dass die Bedeutung politischer Rahmensetzungen für die Resilienz einfach aufgrund der schwachen Informationslage nicht erkannt werden kann.»
- «Auch könnten die Faktoren zwar für die hier definierte konjunkturelle Widerstandsfähigkeit gegenüber externen Schocks von weniger grosser Bedeutung sein, sich jedoch für die längerfristige Anpassungsfähigkeit an neue Gegebenheiten durchaus als wichtig erweisen.»
Henrique Schneider